Ein Gespräch mit Harry Bertermann

Eigentlich sollte dieses Gespräch mit Harry Bertermann ein Rückblick auf seine Arbeit im Kirchenkreis Schwelm werden. Dafür gibt es, wie viele inzwischen wissen, einen aktuellen Anlass. Zum 1. Februar 2026 gibt Harry den Stab der Öffentlichkeitsarbeit an Daniel Jung weiter und geht in den verdienten Ruhestand. Doch dann erschien am 10. November ein Artikel in der Westfalenpost, der viele Christen im evangelischen Kirchenkreis Schwelm (reicht von Herzkamp und Silschede über Haßlinghausen, Schwelm und Gevelsberg bis Milspe, Rüggeberg und Voerde) aufschreckte: „Dramatische Zahlen“ verkündete die Überschrift unheilvoll. Und der Text lässt keinen Zweifel daran, dass der Abwärtstrend in den Mitgliederzahlen viele Angebote gefährdet – und das bereits schon kurzfristig. „Wir hatten im Jahr 2000 noch 54.892 Gemeindemitglieder. 2024 waren es nur noch 33.619“, so Harry in der WP. „Das ist schon dramatisch.“ Weil weniger Mitglieder gleichzeitig weniger Kirchensteuern bedeuten, hat das ganz konkrete Folgen: Es muss gespart werden. Die Zahl der Pfarrstellen wurde und wird weiter reduziert, Gotteshäuser und Gemeindezentren wurden aufgegeben, Angebote gestrichen oder eingeschränkt.
Harry erläutert in der WP im Gespräch mit Hartmut Beyer die Zahlen: „Momentan kommen noch 2700 bis 3000 Mitglieder auf eine Gemeindepfarrstelle. In fünf Jahren werden es wahrscheinlich 5000 sein.“ Das bedeutet, so die WP, dass es 2030 nur noch sechs, höchstens acht Gemeindepfarrstellen geben werde – aktuell sind es zwölf. „Es wird darauf hinauslaufen, dass kirchliche Arbeit verstärkt ehrenamtlich laufen muss“, so Harry Bertermann. Es gebe bereits interprofessionelle Pfarrteams, in denen Pfarrer und Diakone zusammenarbeiten würden. Das sei auch der Tatsache geschuldet, dass sich freie Pfarrstellen nur noch schwer besetzen lassen. Einhergehend mit der Reduzierung der Pfarrstellen gab der Kirchenkreis zahlreiche Gottes- und Gemeindehäuser auf, zudem fusionierten Gemeinden, so der Bericht der Westfalenpost.
Harry, das sind ja höchst alarmierende Zahlen und Perspektiven. Was bedeutet es konkret, wenn bereits für 2030 mit einer Halbierung der Pfarrstellen von heute zwölf auf sechs zu rechnen ist?
Das bedeutet, dass die Pfarrpersonen, die dann im Kirchenkreis Schwelm Gemeindepfarrämter besetzen, sich auf ihre Kernaufgaben beschränken müssen, denn mehr können sie dann gar nicht mehr leisten. Mit Kernaufgaben meine ich Verkündigung wie zum Beispiel Gottesdienste, Andachten und Seelsorge und Amtshandlungen wie Trauungen, Taufen und Beerdigungen. Viele Aufgaben, die heute von den Pfarrpersonen darüber hinaus wahrgenommen werden, müssen in Zukunft von anderen Professionen und/oder ehrenamtlich erledigt werden.
Sparen, so hofft man als Nicht-Insider, ist vielleicht an der Peripherie weniger schmerzhaft, also bei Immobilien, Friedhöfen etc. Aber müsst ihr so ans Herz der Kirchenarbeit gehen?
Harry: Kirchengebäude und Friedhöfe würde ich nicht als Peripherie bezeichnen. Die Gemeinde in Rüggeberg wäre doch ohne die Dorfkirche undenkbar. Wenn die Zahl der Menschen, die sich zur Kirche zugehörig fühlen weiter zurückgeht, ist es doch nur verständlich, dass die Zahl der Immobilien, also Kirchen und Gemeindehäuser, genauso den neuen Gegebenheiten angepasst werden muss, wie die Zahl und die Zusammensetzung der Hauptamtlichen sowie der Neben- und Teilzeitbeschäftigten. Fakt ist, die Kirchenarbeit als Ganzes wird sich verändern.
Wenn zukünftig auf eine Pfarrstelle vielleicht 5000 statt aktuell 2700 bis 3000 Mitglieder entfallen, ist die bisherige Arbeit des Pastors dann noch aufrecht zu erhalten?
Harry: Wie schon gesagt, die dann tätigen Pfarrpersonen haben nicht mehr die Kapazitäten, all die Dinge zu erledigen, die sie heute noch tun. Sie werden sich auf die Aufgaben konzentrieren müssen, für die sie auch ursprünglich ausgebildet wurden. Sie sind Theologinnen und Theologen. Das sind ihre Kernkompetenzen. Und das ist doch auch vielleicht gar nicht so schlecht.
Ihr seid da doch in Eurer Gemeinde schon auf einem guten Weg. Den Vorsitz des Presbyteriums nimmt heute schon ein Ehrenamtlicher wahr und das IPT, das Interprofessionelle Pfarrteam, teilt sich die Aufgaben, die getan werden müssen.
Warum ist es so, dass auch hier bei uns so viele Mitglieder, oft auch schon in jungen Jahren, aus der Kirche austreten und wir sie nicht halten können?
Harry: Warum sollte es bei uns anders sein, als in Hagen, Bochum, Münster oder Berlin? Manche von uns haben vielleicht den Anspruch, besser oder anders als andere Gemeinden oder Kirchenkreise zu sein. Wir sind es aber nicht. Auch wir im Kirchenkreis Schwelm sind Teil dieser Gesellschaft. Und die verändert sich nun einmal rasant. Und mit diesen Veränderungen geht auch leider ein Bedeutungsverlust der Kirchen einher, ob uns das gefällt oder nicht.
Da spielt auch die Großwetterlage eine Rolle. Als zum Beispiel Kardinal Woelki in Köln in die Kritik geraten ist, sind deshalb auch evangelische Menschen aus der Kirche ausgetreten. Dann geht es um „die Kirche“. Es wird dann nicht differenziert zwischen katholisch und evangelisch. Es ist vor diesem Hintergrund egal, in welcher Kirche ein sexualisierter Missbrauch öffentlich wird, es hat auf beide Konfessionen Auswirkungen.
Manchmal hört man den Vorwurf, dass sich die Kirche zu verstaubt und zu wenig aufgeschlossen gibt, die Zeichen der Zeit verpasst hat und an einem tradierten Schema festhält, vom Gottesdienstbeginn am 10 Uhr bis hin zur Liederauswahl. Lässt du diese Kritik an der mangelnden Zeitgemäßheit gelten?
Harry: Nein, die lasse ich nicht gelten. Wir haben im Kirchenkreis Schwelm in den letzten Jahren viel bewegt und verändert. Als ein Beispiel möchte ich die Junge Kirche CONNECT nennen. Die Menschen um Kerstin Becker und Daniel Jung gehen ganz neue Wege. CONNECT verlässt die alten Pfade und erreicht damit Menschen, die mit den tradierten Schemata nichts mehr anfangen können. Bibelgespräche in der Kneipe, Wohnzimmergottesdienste und sportliche Angebote, die die Gemeinschaft stärken, sprechen junge Menschen an. CONNECT zeigt, wie es gehen kann.
Auf Youtube findet man jede Menge Online-Gottesdienste, zum Beispiel auch lokal aus Altenvoerde, die unser Superintendent Andreas Schulte mit einem Team produziert und ins Netz stellen lässt.
Dann haben wir mit „Kirche ansprechBAR“ ein niederschwelliges Format, mit Menschen in Kontakt und ins Gespräch zu kommen.
Und ich bin davon überzeugt, dass auch der Gottesdienst sonntags um 10 Uhr mit den alten Liedern, die übrigens einen reichen Schatz bieten, weiterhin seine Berechtigung hat. Denn auch hier fühlen sich immer noch Menschen angesprochen und geborgen.
Der Mix aus Tradition und Innovation macht es, glaube ich. Und da sind wir gut aufgestellt.
In deinem Gespräch mit der Westfalenpost weist du auch auf soziale Arbeit und Angebote wie Mittagstisch und Aktionen gegen Vereinsamung hin und sagst: „Die Bedeutung für die Gemeinschaft und das Miteinander sollte man nicht unterschätzen.“ Ist das wirklich auch so angekommen draußen in der Öffentlichkeit?
Harry: Gute Frage. Ein Problem von uns Protestanten ist, dass wir mit dem Satz „Tue Gutes und rede darüber“ nicht viel anfangen können. Es gilt in manchen frommen Kreisen ja als verpönt und sündhaft, über erfolgreiche Gemeindearbeit zu berichten. Wir sollen sicher nicht prahlen, aber wir sollen unser Licht auch nicht unter den Scheffel stellen. Da haben wir sicher noch Luft nach oben.
Trotz der kleiner werdenden Gemeinden sagst du, „dass man auch die Chancen sehen und ergreifen sollte und nicht nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen sollte.“ Wo siehst du diese Chancen?
Harry: Damit meine ich, dass wir uns zum Beispiel wieder stärker auf das, was uns wesentlich erscheint, auf unseren Auftrag als Kirche konzentrieren können.
Wenn wir kleiner werden, entwickeln wir vielleicht ein ganz neues „Wir-Gefühl“.
Grundsätzlich meine ich, dass wir nicht zetern, sondern positiv in die Zukunft blicken sollten. Schließlich sind wir nicht alleine (ich sage nur: wo zwei oder drei….). Deshalb sollten wir als Kirche kreativ ans Werk gehen, schließlich haben wir immer noch die beste Botschaft, die es gibt!
Zum Jahresbeginn 2026 soll es eine neue Aktion zur langfristigen Mitgliederbindung geben, die „Kirchenpost“, die sich an junge Menschen zwischen zwölf und 31 wendet. Eine Briefpost, die sich in der Württembergischen und Bayerischen Landeskirche bewährt hat. Kommunikation ist wichtig, aber wären hier in dieser Altersschicht nicht digitale und soziale Medien, Influencer und Multiplikatoren, der angebrachtere Weg?
Harry: Die Evaluationen der Bayern und Württemberger haben gezeigt, dass gerade die Briefpost bei den Adressaten ankommt. Da bekommen junge Menschen auf einmal einen Brief. Das kennen sie zum Teil gar nicht mehr. Diese Art der Kommunikation ist schon wieder etwas Besonderes.
Und die Botschaft der Kirchenpost lautet: Du bist uns als Mensch wichtig. Wir sehen Dich und wir sind als Kirche für Dich da. Mit der Kirchenpost bekommen die Leute eine positive Botschaft. Und vor allem bitten wir nicht, wie sonst oft, um Spenden.
Und ja, soziale Medien sind wichtig, um heute mit den Menschen in Kontakt zu treten. Deshalb wird Daniel Jung auch hier einen Schwerpunkt in seiner Arbeit als Öffentlichkeitsreferent des Kirchenkreises legen. YouTube, Instagram und unser Podcast „Was geht denn hier ab“ sind Kanäle, die in Zukunft verstärkt „bespielt“ werden.
Vielen Dank, Harry. – Wir wünschen dir ab Februar 2026 einen kreativen, agilen und vor allem gesunden Ruhestand.





